DER DEPRESSIVE IN SEINEM ZIMMER
INNEN - KLINIK - ABEND
Das Abendessen ist vorbei. Ich sitze auf der roten Couch in meinem Zimmer, vor mir steht eine Thermoskanne mit Tee.
Was für ein Tag! Seit 10 Uhr morgens bin ich nun ein offizieller Patient hier und das Sitzen auf dieser Couch fühlt sich so an, als wäre ich hier schon immer gewesen. Dieser Gedanke lässt mich erschaudern. Was, wenn ich ab jetzt tatsächlich für immer hier bleiben muss? Ich schaue zur Zimmertür rüber und erkenne eine Türklinke. Ein Schmunzeln macht sich auf meinem Gesicht breit. „Schau nach, ob die Türen von innen eine Klinke haben!“ Diesen Ratschlag gab mir mein Tanzlehrer gestern Abend noch scherzhaft zum Abschied mit auf den Weg. Alles Bestens.
Alles Bestens?? – Was ist los mit mir? Ein Gefühl der Gelassenheit, ein Loslassen verschiedener Spannungen im Körper hatte ich jetzt seit 5 Monaten nicht mehr. Heute Morgen noch hätte ich am liebsten geheult, als man mir Blut abnahm. Schisser!
PATEN FÜR DEPRESSIVE
Ich bin nicht alleine hier und jeder in dieser Klinik hat sein Päckchen zu tragen. Damit das Tragen etwas einfacher wird, gibt es das Patensystem. Die sogenannten „erfahrenen Patienten“ (gruselig. Die sind also schon länger hier) führen die Neuankömmlinge am ersten Abend durchs Haus. Sie erklären einem die verschiedenen Räume, wie den Waschraum, den Speisesaal und alles was zum Klinikalltag gehört. Außerdem sind sie Ansprechpartner für alle Fragen, die man möglicherweise nach dem ersten Tag hat und in nächster Zeit haben wird.
Mein Pate holte mich vorhin pünktlich um 17 Uhr ab und die Tour ging los. Zuerst machten wir den Keller unsicher. Dort befinden sich der Fitnessraum und die Sauna. Zusätzlich befindet sich hier die Kinder und Jugendstation für Essgestörte. Sauna jeden Tag ab 16 Uhr geöffnet. Das klingt nach einem Deal.
Im ersten Stock dann die medizinische Zentrale. Im zweiten Stock befinden sich weitere Therapieräume und die Lounge, in der es bis 22 Uhr Kaffee, Wasser, Säfte und um 15 Uhr Kuchen gibt. Für Privatpatienten.
LOSLASSEN, SICHER FÜHLEN, RUNTERKOMMEN
Dieses Gefühl des Loslassens, der Gelassenheit machte sich irgendwann gegen Mittag in mir breit. Meine ersten Termine waren alle erfolgreich abgearbeitet und ich hatte mich in meinem Zimmer eingerichtet. Ich sah Menschen, denen es ähnlichging wie mir und jede Menge Klinikpersonal, das den ganzen Tag nichts anderes macht, als Menschen wie mir zu helfen. Das zu sehen und zu begreifen gab mir einen Schub in meinem Hirn. “Hier kann mir ernsthaft geholfen werden.“
Genau dieser Gedanke ließ mich vor kurzem lächelnd, und andere Patienten grüßend, vom Abendessen zu meinem Zimmer gehen. Ein tolles Gefühl!
DIE WELT AUSSEN VOR LASSEN
Mir kam heute Mittag der Entschluss, dass die Zeit hier in der Klinik für mich ist und ich mich ausschließlich um mich kümmern werde. Seit meinem Abitur habe ich nicht mehr so viel Zeit zuhause und bei meinen Eltern verbracht. Meine Eltern haben in dieser Zeit alles getan, jeden Hebel in Bewegung gesetzt, damit es mir schnellstmöglich wieder besser geht.
Nach Monaten der schweren Depression ist dies die erste große Veränderung für beide Seiten. Es ist jetzt der Punkt gekommen, an dem ich an mir arbeiten möchte, ohne die Schritte mit meinen Eltern besprechen zu müssen. Ich bin mir sicher, dass sie gerne erfahren möchten, wie der Verlauf in den nächsten Wochen ist und welche Fortschritte ich mache. Aber was, wenn ich erst mal keine Fortschritte mache? Erzähle ich das dann? Die Gefahr besteht, dass sie sich Sorgen machen. Ich war schon immer derjenige in der Familie über den sich gesorgt wurde. Meine Schulzeit hat daran den Löwenteil der Gründe gestellt.
Ich möchte aber nicht, dass sie sich in den nächsten Wochen wohlmöglich noch mehr Sorgen machen, als sie es jetzt schon machen. Und ich möchte nicht jedes Detail erklären müssen. Ich wende daher einen bekannten Satz aus dem Castingbusiness an:“Wir melden uns dann. Bitte sie sich nicht bei uns.“
Ich habe (Stand heute) nicht die Absicht mich in der ersten Woche zu melden. Nächstes Wochenende ist schon Ostern. Das ist ein guter Zeitpunkt um sich nach dem heutigen Abend zu melden.
Ich glaube, dass ich auch WhatsApp und Co verbieten werde, sich mit dem Internet zu verbinden und mir „Neuigkeiten“ durchzustellen. Das kann ich jetzt alles nicht gebrauchen. Aber ob ich das tatsächlich durchziehe, weiß ich noch nicht. Zunächst ist der Flugmodus und der Safe eine akzeptable Option bzw. Kombination.
Es grüßt herzlich
Das Faultier