INNEN - ZIMMER - TAG
Das Faultier liegt im Bett, vor ihm liegt der Laptop. YouTube ist geöffnet. Durch die Fenster verirren sich heute nur ganz wenige Sonnenstrahlen. Ein trüber Morgen, mit trüben Gedanken, die das Faultier mal wieder plagen. Auf YouTube läuft an diesem Morgen immer wieder das gleiche Lied. Am Vortag hatte das Faultier es zum ersten Mal in seinem Leben gehört. Es war zu Besuch bei seinem Tanzlehrer gewesen und sie hatten sich mal wieder über Musik und die Kunst ausgetauscht. Dabei wurde dieses Lied in das Leben des Faultiers katapultiert.
Der Sänger, in dieser Version schon sichtlich in die Jahre gekommen, ist gerade mit seiner Vorrede fertig geworden und fängt nicht- wie man es erwarten könnte - auf den ersten Schlag des Taktes an zu singen, sondern in einem Zwischenstadium vom 3. zum 4. Der Schlagzeuger reagiert brillant mit einem Fill-in und schon stimmt alles wieder. Diese Band kennt ihren Sänger und sie spielen mit einer Routine und Unaufgeregtheit, dass man es als „cool“ bezeichnen kann.Das Faultier ist fasziniert von dieser Version des Liedes. - Da steht ein in die Jahre gekommener Sänger mit einer Narbe über dem linken Auge, welches von einer Sonnenbrille verdeckt wird, und umarmt das Mikrofon.
Dabei kann man erkennen, dass ihm der Mittelfinger der rechten Hand nur noch bis zum Gelenk geblieben ist. Was könnte dieser Mann alles erlebt haben? Kneipenschlägereien?Der halbe Mittelfinger könnte auch eine, gut gemeinte, aber bestimmte, Zahlungserinnerung einer beliebigen Untergrundorganisation sein. Der berühmte Knoten im Taschentuch, nur dass man das verlegen kann. Einen halben Mittelfinger an der eigenen Hand, verlegt man dann doch eher selten. Diese Gedanken passen zum melancholischen Charakter des Songs und auch - mal wieder - zu dem des Faultiers.
Seit dem Wochenende, wir haben nun Donnerstag, geht es dem Faultier kontinuierlich schlechter.
Kein messbarer Fortschritt, die Nächte werden wieder schlimmer und die Träume wieder wirrer. Es musste Mittwoch Abend den Besuch vorzeitig und plötzlich abbrechen, um dort nicht losheulen zu müssen. Im Auto aber überwältigten es die Gefühle. „Bloß schnell nach Hause“. Alles war scheiße, die Welt dunkel und trist. In ein paar hundert Meter endete die Straße. Es ging nur links oder rechts weiter. Das Faultier gab weiterhin Gas. „Warum, nicht einfach auf dem Gas bleiben und die Physik an der immer näher kommende Mauer den Rest erledigen zu lassen?“, dachte es sich. Eine Sekunde später stand es auf der Bremse, bog nach rechts ab und fuhr ohne weitere Vorkommnisse nach Hause. Dort angekommen verspannte sich der komplette Rücken in einem Heul-Krampfanfall. Es war ein Abend zum davonlaufen und nur mit Mühe konnte man das Faultier wieder aufzurichten.
Wir schauen nun also direkt in den Morgen danach. Mittlerweile hat er diese Bezeichnung nicht mehr verdient und der Morgen ist zu einem Mittag geworden. Ansonsten hat sich nichts geändert.
Die Zimmertür öffnet sich und die Mutter des Faultiers kommt mit einem Telefon herein. Sie versucht aufgeregt klar zu machen, dass die Klinik am anderen Ende ist.“Guten Tag Herr Faultier mein Name ist …. und ich freue mich, ihnen einen Platz in unserer Klinik am 17.03. anbieten zu können.“ Das sitzt. Heute in einer Woche, würde es also losgehen. Erleichterung und Freude machen sich im Körper des Faultiers breit. Das war ja fantastisch. Hatte es mit einer Nachricht diese Woche doch gar nicht mehr gerechnet.
So schnell die Erleichterung und Freude sich im Körper ausgebreitet hatte, so schnell sollte sie auch wieder weichen, als die angekündigte Mail mit allen benötigten Infos eintreffen sollte.
Mehrere Anhänge mit seitenlangen Formularen. Was man alles durfte, was nicht, wie der erste Tag abläuft. Das alles kann das Faultier dort lesen und die plötzliche geballte Masse an Informationen überfordert es. Da entdeckt es den Punkt : ärztliche Aufnahme
Bitte was? Das hatte man ihm vorher verschwiegen! Das Faultier ist seit einigen Jahren stark hypochondrisch. Diese Sorte von hypochondrisch, die nicht zum Arzt geht. Es vertritt die Meinung, dass man immer etwas findet, wenn man nur gründlich genug danach sucht. Würde es an etwas Lebensbedrohlichem erkranken, so wollte es das gar nicht wissen, sondern nach Ablauf der Zeit einfach umfallen.
Das sind alles Argumente die dem Faultier Mut machen sollen. Sie tun es aber nicht. Oft genug quälen sich Patienten monatelang und jahrelang. Sie haben dann Jahr 4 überstanden und schaffen es in Jahr 5 nicht mehr. Was hat man gewonnen, außer eine Zahl auf dem Grabstein, die um eins größer ist, als ohne quälende und lästige Behandlung? Da fällt dem Faultier, auf Anhieb, und auch nach längerem Überlegen, nichts ein. Die drei Jahre hätte man doch auch noch froh und munter verbringen können.
Die Sache ist klar. Klinik wird abgesagt. Die sollten dem Faultier dort eigentlich helfen und es nicht noch schlimmer machen. Und weil die ärztliche Aufnahme sozusagen die erste Amtshandlung dort sein wird, kann es da nicht hin.
Im Laufe des Tages wird man viele, viele Argumente aufbringen, um das Faultier umzustimmen. Die Eltern sind sich sicher, dass es eine „vernünftige Entscheidung“ trifft. Man braucht hier wirklich keinen Rechtsstreit zu führen um die Botschaft dahinter entschlüsseln zu können : „Letztendlich wirst du da hingehen, ansonsten sind wir sehr enttäuscht.“
Tjo, was soll es tun? Sich der Angst stellen, sich bestätigen lassen, dass alles in Ordnung ist? Dann ist auch die Angst weg?
Wenn jemand Angst hat aus dem 40. Stock einen Hochhauses zu springen, weil er denkt nur noch Mus zu sein, wenn er unten ankommt, dann ist das, so wird mir jeder zustimmen, eine recht gesunde Haltung. Nun stehen dort oben am Fenster aber eine Vielzahl von Personen, die auf den Nicht-Springen-Wollenden einreden.“Habe ich auch schon gemacht, alles halb so schlimm.“ „Du wirst, sehen, es wird gut gehen“ „Als ob ausgerechnet Du dort unten als Mus aufklatscht, das ist ja lächerlich.“ „Einmal springen, dann siehst du, dass es völlig unbegründet war.“
Und jetzt? würdet ihr springen? Diese Leute scheinen es ja allesamt zu wissen. Die Angst ist unbegründet.
Das Faultier hat sich („vernünftig“) entschieden zu springen….
Donnerstag der 17.03.2016, 10 Uhr, Aufnahme in der Klinik.
Dort wird es nun bis zum Sommer verbringen. Wird das Familienfest an Ostern verpassen, die Konfirmation seiner Cousine nicht mitfeiern können und den neuen Erstsemestern nicht zeigen können, welche Kneipe sich lohnt und was heißt, mit dem Faultier „Wenn ich du wäre“ zu spielen.
Dafür wird es sich viel mit sich selbst beschäftigen, einen straffen Therapieplan absolvieren und am Ende, so die Hoffnung, wieder gefestigt ins Leben starten können…
…oder man ist wirklich Mus, wenn man einfach so aus dem 40. Stock springt...
Es grüßt herzlich
Das Faultier