INNEN - BADEZIMMER - ABEND
Der Wasserhahn des Waschbeckens ist voll aufgedreht, der elektrische Rasierapparat liegt auf dem Fensterbrett und summt scheppernd vor sich hin. Die Brille der Toilette ist hochgeklappt und das Faultier kniet davor und würgt kaum verdautes Essen wieder hervor.
Es ist Mittwochabend und damit steht mir am nächsten Tag die Aufnahme in der Klinik bevor. Es ist ein Schritt, der mich viel Kraft kostet. Seelisch und damit verbunden auch körperlich. Ich fühle mich seit Monaten erschöpft, hatte zwischenzeitlich eine Phase, in der es mir etwas besser ging, kämpfe aber jeden Tag mit mir und auch gegen mich selbst. Ein Zustand der komplettem Leere wechselt sich mit dem Zustand geistiger Getriebenheit und körperlicher Unruhe. Meine Seele befindet sich auf einem Dauersaunergang. Aufheizen und dann kalt abspülen und direkt wieder in die Sauna. Tag für Tag. Das es so nicht weitergeht ist klar und ich bin jeden Tag aufs neue überrascht, dass doch noch Kraft für den nächsten Tag da ist. Irgendwo kommt die also her.
Ambulant und im gewohnten Umfeld ist das Problem laut meines Neurologen wohl nicht zu lösen. Damit wird er recht haben, hatte mir das auch schon so gedacht. Sich aber letztendlich einzugestehen, dass es ohne einen Klinikaufenthalt nicht mehr geht, ist eine ganz andere Hausnummer. Wenn man dann noch Vorbehalte gegen Krankenhäuser und Kliniken allgemein hat, wird es noch mal ein Stück schwieriger. Hinzu kommt, dass dort sehr intensiv an meiner Psyche geschraubt werden wird. Solche Leute hatte ich in meiner Zeit in Frankfurt auch schon mal und seitdem ein großes Problem mich zu öffnen, weil ich Angst habe Stellen für Verletzungen zu öffnen.
Mein Körper kommt in dieser Nacht nicht zur Ruhe. Ich schlafe von den Medikamenten recht zügig ein, werde aber immer wieder wach, muss wegen Durchfall ins Bad und kann schwer wieder einschlafen. Eine sehr kurze und schlechte Nacht steht bevor.
INNEN - AUTO - TAG
Ich sitze auf dem Rücksitz des Autos, welches mich in die Klinik bringen wird. Im Kofferraum ist ein vollgepackter Koffer, eine Tasche mit Sportschuhen, Wanderschuhen und Stiefeln. Dann eine vollgepackte Sporttasche und mein Macbook. Ich versuche meinen Blick schweifen zu lassen, die Landschaft zu beobachten. Meine Augen können aber nichts richtig fixieren, mir wird übel. Schließe ich meine Augen, wird mir auch übel. Mein Magen beschwert sich durchgehend und ich fange an unruhig auf dem Sitz hin und her zu rutschen. Wir kommen an der Stadt vorbei, die ich seit 4 Jahren in mein Herz geschlossen habe und die ich seit langer Zeit nicht mehr betreten habe. Mein Herz fängt wie verrückt an zu pochen. Ich sehe die vertraute Landschaft, markante Gebäude. Ein Gefühl von Glück weicht einem Gefühl der Verzweiflung. Schöne Erinnerungen kommen hoch, vergehen aber genauso schnell wieder und weichen schlechten Erinnerungen. Mein Magen dreht sich um, mir ist schwindelig, möchte mich übergeben. Ich reiße mich zusammen, schlucke einmal kräftig und muss bei dem Geschmack von Säure und faulen Eiern direkt wieder würgen, bekomme es aber unter Kontrolle. Jetzt bloß nicht noch anhalten und kotzen müssen. Ich lege mir meinen Mantel an die Scheibe, lege meinen Kopf dagegen und schlafe etwas.
INNEN - KLINIK - TAG
Ich habe soeben die Klinik betreten. Vor mir ist die Rezeption, an der gerade eine junge Frau steht und Informationen erhält. Ich warte etwas und darf schließlich vortreten. Ich nenne meinen Namen, dieser wird auf einer Liste abgehakt. Die Frau hinter der Rezeption gibt mir etwas Material in die Hand und bittet mich noch etwas Platz zu nehmen. Meine Eltern und ich setzen uns in den Wartebereich der sehr hellen und offenen Eingangshalle. Ein Sofa weiter sitzt eine Frau, die wohl auch gerade erst angekommen ist. Nach kurzer Zeit werde ich von meiner Patientenbetreuerin abgeholt. Diese wird mir kurz den geographischen Aufbau der Klinik erklären, zeigt mir mein Postfach und begleitet mich dann auch schon auf mein Zimmer. Dieses ist mit einer Chipkarte zu öffnen und auch zu schließen. Da liegt es nun vor mir. Das Zimmer, dass für die nächsten Wochen mein Zuhause sein wird. Hell, groß, eine Couch, ein Schreibtisch, ein Bett, zwei große Schränke und ein sehr geräumiges Bad mit ebenerdiger Dusche und einer seltsamen roten Schnur, die bis auf den Boden hängt.
Wie lange werde ich wohl hier bleiben, diesem Zimmer meine eigene Note geben, mich einrichten? Ich weiß es nicht. Die Ärzte auch noch nicht. Auf der Bescheinigung für den Klinikaufenthalt steht bei "Dauer der Behandlung" : bis auf weiteres. „Da wird sich das Sekretariat der Uni aber freuen, wenn sie das vorgelegt bekommen.“, denk ich mir und muss grinsen. Wie sich rausgestellt hat, sind die gerade zu besessen von einem fixen Datum. Nur leider habe ich kein Beinbruch oder einen verstauchten Finger. Was wollen die dann erst bei einer schweren Krebserkrankung hören? Saftladen.
Ich gehe zurück zum Empfang, hole mit meinen Eltern mein Gepäck und zeige ihnen mein Zimmer. Wir verabschieden uns und es ist ihnen anzusehen, dass es ihnen schwer fällt. Ich sehe viel Hoffnung, aber gerade meiner Mutter ist auch Sorge anzusehen. Das und ein kurzes Telefonat am Abend wird für 8 Tage der letzte Kontakt zwischen meinen Eltern und mir gewesen sein. Sie treten die Heimreise an und ich gehe mit vielen Unterlagen zu meinem ersten Termin : Aufnahme Co-Therapie (bringen sie bitte ihren Terminplan mit)
Ab jetzt beginnt eine neue Zeitrechnung. Es wird eine Zeit vor der Klinik geben und eine danach. Eine Zeit, in der ich mein Leben ändern muss und eine Zeit in der ich mein Ändern lebe. Möge die Zeit in der Klinik den Grundstein für letztere Zeit legen.
Es grüßt herzlich
Das Faultier