Hello Again
ICD-10 F32.2 what the F*ck??? Kleine Depressionskunde
Für über ein halbes Jahr lang war ich von heute auf morgen aus meiner geliebten Studentenstadt verschwunden und hatte keinen Kontakt mehr zu Freunden und Mitstudenten dort. Innerhalb von nur 6 Monaten durchlebte ich mehrere Stadien der Krankheit und unterschiedlich stark ausgeprägten Symptomen. So wechselte es rasch von mittelgradig auf schwer. In dem schlauen Buch der Mediziner wurde ich nach der interantionalen Kodierung ICD-10 mit einer F32.2 eingestuft. Das entspricht einer schweren depressiven Episode ohne psychotische Symptome, sprich ohne Halluzinationen oder Wahnideen. Das ganze ist rezidivierend, also keine einmalige Episode.
Es gibt eine Liste mit Symptomen, welche erfüllt sein müssen, sodass man von einer Depression spricht. Diese sind in Haupt - und Nebensymptome aufgeteilt. Spricht man von einer Depression, müssen mindestens zwei Haupstymptome und zwei Nebensymptome vorliegen. Desweiteren müssen diese mindestens zwei Wochen anhalten.
Mixt man die Symptome also einmal gut durch, lässt sie bei geringer Hitze zwei Wochen köcheln, hat man eine wunderbare Depression. Der erfahrene Depressionskoch schmeckt es mit seiner eigenen Art und pikanten Nebensymptomen noch fein ab. Sie besteht immer aus den gleichen Zutaten und doch schmeckt sie bei Jedem etwas anders.
Ich habe alle Haupt- sowie Nebensymptome in meine Depression gemixt. Die gefährlichsten hierbei waren Appetitverlust und Suizidale Gedanken. Der Appetitverlust bescherte den Gewichtsverlust meines Lebens am oberen Ende des Untergewichts, wobei die suizidalen Gedanken zwei mal zu dem Verlust meines Lebens hätten führen können.
Die wirklich extreme Gewichtsabnahme mit den suizidalen Gedanken führte schließlich zu der Empfehlung mich in eine Fachklinik zu begeben. Dort bestätigte man mir die Diagnose, wobei die Suizidalität immerhin schon von hoch auf mittel gesunken war. Wäre sie immer noch hoch gewesen, hätte ich dort gar nicht behandelt werden können.
Depressive Episode - Wie lange denn bitte noch?!
Am 04.05.2016 wurde ich schließlich nach sieben Wochen Behandlung aus der Klinik zurück in die Freiheit entlassen. Das war der innere Startschuss für mich, meinen Lebensmittelpunkt wieder aus dem Elternhaus heraus zu verlagern und mich nach und nach wieder in diesem wundervollen Städtchen einzurichten, in dem ich vorher wohnte.
Nach selbstauferlegter Schonzeit von zwei Wochen fuhr ich also dem Rhein entgegen. Nicht ohne ein mulmiges Gefühl im Bauch. Aber endlich fühlte ich mich stark genug dafür. Noch länger von Allem und Jedem abgeschnitten zu sein, war keine Option mehr für mich. Ich besprach diesen Schritt selbstverständlich im Vorfeld mit meiner Therapeutin. Teilte ihr meine Ängste und Befürchtungen mit, aber auch was ich mir von diesem Schritt erhoffe.
Die Angst war, dass ich dort alleine in einer verlassenen Wohnung wieder versinke, mich die Erinnerungen überwältigen und letztendlich nicht mehr loslassen würden. Eine nicht unbegründete Angst! Ich verband die lezten Monate keinen positiven Gedanken mehr mit der Wohnung. Verbindet man heute den 11. September auch nicht mit dem Patent von 1841 für die erste Tube der Welt, sondern eher mit den Terroranschlägen auf das World Trade Center 2001, so hatte auch ich jegliche, glücklichen Ereignisse an meine Wohnung verdrängt. Sie waren aber noch da. Ich konnte sie spüren und bereiteten mir ab und an ein wohliges Gefühl, wenn mein Gehirn an einer dieser Erinnerungen entlangglitt. Konnte ich noch vor zwei Monaten schwer Gesprächen folgen, mich aus einer Starre von Angst und Gleichgültigkeit nicht befreien. so war der Schritt alleine in meine Wohnung zurückzukehren, sicherlich ein kleiner für meine Füße, aber ein umso größerer für mein Gehirn, meine Gefühle und mein Selbstvertrauen.
the eagle has landed
Dort angekommen, schaute ich mich in meiner Wohnung um. Als wäre die Zeit an jenem Tag im November stehen geblieben! Alles unverändert, bis auf die Staubschicht. Die war dicker geworden. Wie befürchtet musste ich einen recht guten Schlag in die Magengrube und an die Stirn einstecken, kam ins taumeln und musste mich ausruhen.
Es klingt verdammt lächerlich. Ich war alleine durch die Präsenz der Erinnerungen in diesem Raum fertig. So legte ich mich hin, stand am frühen Abend wieder auf und war erneut überfordert.
Der Plan war, durch das Putzen der Wohnung die negativen Erinnerungen sozusagen wegzuwischen und wieder Raum für kommende, positive Ereignisse zu schaffen. Aber wo fängt man an? Ich putzte schließlich knappe zwei Stunden und beschloss dann in eine Bar zu gehen. Dort traf ich eine Gruppe von Freunden, die ziemlich überrascht waren, mich dort zu sehen. Es folgte ein schöner Abend und die erste Nacht in meiner Wohnung.
Insgesamt brauchte ich knapp drei Tage um für mich alles zu putzen und aufzuräumen. Richtig wieder angekommen bin ich dennoch nicht und wird noch etwas Zeit und Veränderungen erfordern.
Wie geht es nun weiter ?
Eine Frage die ich mir selbst gestellt habe, die ich mit den Therapeuten lange diskutiert habe und die für mich und meine Probleme mit besonderer Vorsicht zu genießen ist. Es ist eine notwendige Frage, die sich Jeder an verschiedenen Punkten in seinem Leben stellen muss. Ein Teil meiner Probleme liegt aber genau in dieser Frage. Vielmehr in dem fast zwanghaften Grübeln über diese.
So hat es bis in die letzte Woche meines Aufenthalts gedauert, bis ich die Überlegungen und Ratschläge zu dieser Frage von den Ärzte und Therapeuten (im Ansatz) annehmen konnte.
Die sieben Wochen waren erst der Anfang. Sie richteten mich wieder auf und machten mich wieder alltagstauglich. Der Genesungsprozess ist damit aber noch nicht abgeschlossen. Dennoch hat sich in diesen sieben Wochen viel für mich geändert und getan.
Ich brauchte also ein halbes Jahr für mich alleine, bin nun wieder zurück und habe mich auch innerlich verändert.
Das hat zur Folge, dass ich auf die unausweichlichen Fragen von Mitmenschen recht selbstbewusst antworten kann, dass ich momentan nichts mache, außer gesund zu werden. Persönlich betrachtet finde ich das einen großen Schritt. Muss ich mich seit dem Abitur immer und immer und immer und immer und immer und immer wieder dafür rechtfertigen, was ich mache und wie ich es mache, mache ich nun erst gar keine Anstalten es genauer zu erklären. Interessiert sich eine Person wirklich dafür, wie es mir geht und was ich mache, dann erkläre ich es ihr natürlich. Dass ich zur Zeit einen Alltag aufbaue, verschiedene therapeutische und bewegungsfördernde Termine wahrnehme und sehr offen durch die Welt spaziere. Das ich ein paar neue Sachen für mich ausprobiere und alles aufsauge, was es Interessantes gibt.
Sich nicht für alles rechtfertigen zu müssen. Das Recht zu haben auch mal nein zu sagen, ohne es weiter begründen zu müssen.
Dinge wie diese müssen sich erst einmal einen Platz im Gehirn suchen. Was das betrifft bin ich ein Anderer geworden, als der der vor über einem halben Jahr seine Wohnung und die Stadt verlassen hat.
Es grüßt herzlich