Essen bei den Depris
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Das depressive Paradoxon
Was mir direkt morgens auffiel war, dass hier niemand planlos mit gesenktem Kopf und murmelnd durch die Gänge lief, so wie ich mir das im Vorfeld vorgestellt hatte. Ich wurde sogar von Mitpatienten direkt am ersten Tag gegrüßt. Das hat einen bleibenden, positiven Eindruck bei mir hinterlassen. Es liefen sogar Patienten mit einem Lächeln durch die Gänge. Vereinzelt sah ich Grüppchen zusammenstehen die sogar - und jetzt wird es ganz verrückt - lachten. Anscheinend kann man an einer Depression erkrankt sein und trotzdem lachen. Diese Erfahrung habe ich auch schon gemacht, bevor es dann ganz schlimm wurde. Daher ist es auch so schwer, es zu erkennen oder Personen gar anzusehen. Man hat ja keinen Gips im Kopf, der aus den Ohren etwas hervorquellt und signalisiert "Oh der Arme, den hat es aber übel getroffen".
Kaum einer war mir an diesem Morgen geknickt entgegen gekommen, so dass man nicht auf die Idee kam, hier wären Depressive zu Gange.
Es gab aber eine Personengruppe, die davon besonders heraus stach und die mir gerade auf dem Weg zum Mittagessen erneut auffällt. Diese Gruppe besteht hauptsächlich aus Mädchen und Frauen im Altersbereich (früh-)jugendlich bis Anfang/Mitte 30. Vereinzelt gibt es auch Ausnahmen zu beobachten. Diesen Personen sieht man deutlich an, dass etwas nicht stimmt. Sieht man Depressiven ihr Leiden oft nicht an, so kann man bei dieser Gruppe das Leiden ganz deutlich von außen sehen. Sie schlurfen meist mit gesenktem Kopf durch die Gänge und wenn sie einen ansehen, dann ist da so gut wie immer ein verzerrter, leidender und recht schüchterner Blick. Dazu sind die Arme ganz fest um die Brust verschlungen und es sieht aus, als hätten sie unerträgliche Schmerzen in diesem Bereich. Wenn man weiß, dass die Personen dieser Gruppe alle an einer Essstörung leiden, kann man auch verstehen warum. Sie leiden wirklich Schmerzen, psychisch wie auch körperlich. Sie fühlen sich nicht ein Fünkchen wohl in ihrem Körper, schämen sich und würden am Liebsten als Geist durch die Gänge gleiten. Es geht nämlich zum Mittagessen. Für die Mehrzahl der Bevölkerung eine Nebensächlichkeit, die das Leben so mit sich bringt, wie Stuhlgang oder Schwitzen, so ist es für diese Mädchen und Frauen der reinste Albtraum. Tag für Tag und das auch noch gleich drei mal an selbigem. Ein ähnlich psychisches Unwohlsein hätte ich wohl, wenn ich drei mal am Tag einen Halbmarathon laufen und danach eine Klausur in Stochastik bei Exmatrikulator Klenke schreiben müsste, welcher sich nur dann bestätigt fühlt, wenn knapp 75% des Kurses durchfallen. Alles andere würde ja bedeuten, dass es jeder Grundschüler lösen könnte, was nicht sein Anspruch sein kann. Er ist an der Uni der Mann für die "natürliche" Auslese in der Mathematik.
Salat! Eine hoch komplexer Vorgang und die Neuentdeckung der Langsamkeit
Ich trete in den Speisesaal und desinfiziere als Erstes meine Hände. Eine Geräuschkulisse bestehend aus rückenden Stühlen, klapperndem Besteck, Tabletts die gestapelt werden und lautem Gelächter kommt mir entgegen. Ein toller Ort für Hyperakustiker um verrückt zu werden. Ausgerüstet mit einem Tablett und Besteck stelle ich mich in die Schlange für das Salatbuffet. Es ist kurz nach halb Eins.
Diese Zeitangabe wird im Verlauf noch sehr wichtig sein, wie ich gleich erfahren werde.
Die besagte Schlange ist gar nicht so groß. Es geht trotzdem unerträglich langsam voran. Der Fortschritt wird von nur zwei Personen aufgehalten. Zwei dünne, junge Frauen stehen vor diesem Buffet aus Salatzuaten. Für Manche sieht es aus wie willkürliches starren gefolgt von langsamem Aufladen der Zutaten auf den Teller. Schaut man genauer hin, was ich gemeinhin ja gerne mache, so ist es quasi eine Choreographie, die sie da unterbewusst vollführen. Erst wird geschaut, dann wird mit dem Besteck nicht einfach eine Portion Paprika aufgeladen. Es ist vielmehr ein hoch komplexer Vorgang. Dieser wird mit höchster Vorsicht und sehr sehr bewusst ausgeführt. Hierbei werden komplett identisch aussehende, und (fast) gleichgroß geschnittene Paprikawürfel fein säuberlich im Vorfeld selektiert. Diese Selektierung macht rational überhaupt keinen Sinn, ist aber ein Teil der Krankheit.
Um sich das ganze besser vorstellen zu können:
Es gab Anfang des Jahres einen wunderbaren Disneyfilm. In „Zoomania“ kommen die unterschiedlichsten Tiere vor. Der Film ist mit einer solchen Dichte an feinen, kleinen Details gefüllt, die man oft nur unterbewusst wahrnimmt, das Gesamterlebnis dadurch aber so extrem real und stimmig erscheinen lässt. Diese Detailverliebtheit habe ich bisher noch bei keinem Animationsfilm gesehen und es ist genau das, was Disney immer ausgemacht hat. Das haben sie jetzt im digitalen wiedergefunden. In der Stadt um die sich der Film dreht, gibt es eine Führerscheinbehörde. Die Angestellten dort sind Faultiere!! Eine wunderbare Wahl für Behördenangestellte. Der einzige Unterschied ist, dass Faultiere von Natur aus träge und langsam sind. Bei realen Behörden fragt man sich eher wie reines Nichtstun nur solange dauern kann. Aber eben in dieser Langsamkeit der Faultiere in „Zoomania“ geht der oben beschriebene Vorgang von statten.
Ich muss auch sofort an eine Geschichte von einem sehr guten Schulfreund von mir denken. Dieser erzählte von einem Erlebnis beim Essen mit seinem Onkel und seinen Cousins. Der jüngste stach wohl in fast jede Kartoffel, bis er sich entschieden hatte. Daraufhin sagte sein Vater zu ihm, dass er nicht erst jede Kartoffel einzeln begrüßen müsse, bevor er sich eine nimmt. Diesen Satz möchte ich jetzt auch am liebsten diesen zwei jungen Frauen zurufen! Nach einer gefühlten halben Ewigkeit komme ich dann tatsächlich an die Zutaten, nehme von Allem ein wenig und mische das ganze mit etwas Essig und Öl. Das Mischen mit Essig, Öl und Gewürzen vor Ort ging dabei schneller als deren rituelles abfüllen von Essig in eine kleine Schüssel, um später zu mischen - oder auch eben nicht zu mischen - ...
Salat hätte ich jetzt schon mal. Ein Hauptgericht wäre jetzt noch nett. Aus vier Gerichten und drei Vorspeisensuppen kann ich Mittags wählen. Es ist mein erster Mittag, ich weiß noch nicht, was hier so schmeckt und will mich auch nicht so recht entscheiden. Die Lösung meines Problems liegt also darin, von Allem etwas zu nehmen und dann auszutesten. Hier steh ich nun mit meinem Tablett voller verschiedener Speisen und schaue mich nach einem freien Platz um. Mir fällt ein Tisch in der Mitte des Raumes mit bestem Blick auf das Salatbuffet auf.
Tisch 1, fränkisches Bier, Lewandowski und knastige Fantasien
Es scheint dort noch genau ein Platz frei zu sein. Ich frage höflich, bekomme dies bejaht und setze mich. Von diesem Tisch geht gefühlt 80% der Lautstärke in diesem Saal aus und es wird fast durchgehend gelacht. Ein fröhlicher bunter Haufen. Ich hatte noch nie Probleme mich in einer fremden Umgebung schnell zurecht zu finden und Kontakte zu knüpfen und auch hier, im kranken Zustand, lässt mich diese Gabe nicht im Stich. Aber der Reihe nach.
Rechts von mir sitzt eine junge Apothekerin. Mir gegenüber will gerade ein Mann Ende der 30er platz nehmen. Dieser Vorgang dauert aber noch ein wenig, weil er gefühlt jede weibliche Person, die an ihm vorbeigeht umarmt und einen lockeren Spruch auf den Lippen hat. Der größte an diesem Tisch ist auch gleichzeitig der lauteste. Er ist Dachdecker und scheint sich hier wie auf einem Dach zu fühlen, da er ziemlich laut redet. Um dem etwas entgegen zu setzen, sprechen die anderen auch lauter und so schaukelt sich das ganze immer weiter hoch, bis alles in einem lauten Gelächter endet. Herrlich! Dann sitzt da noch ein Beamter, eine junge Frau, die die Verwaltung in einem Krankenhaus leitet, eine Schwäbin, ein Schwabe und dann ist da noch ein Franke, seines Zeichen Bundespolizist, bekennender Bierfan - natürlich nur Bier aus Franken. alles andere ist Plörre( er hatte da noch einen speziellen fränkischen Ausdruck für, der mir aber nicht mehr einfällt) - und er erzählt ohne Unterlass von Lewandowski. „Na, da ist aber jemand ein ziemlicher Fußballfan“, denk ich mir.
Das also ist mein Mittagstisch für heute. Tisch 1, wie sie sich selbst nennen. Der legendäre Tisch 1. Wie lange muss man hier sein, damit man zur Legende wird?! Etwas beängstigend der Gedanke.
Und so sitze ich nun dort als Neuling, löffel meine Suppe, esse meinen schwer erkämpften(besser: erwarteten) Salat und lausche den Gesprächen am Tisch. „Der Neue. Du bist tatsächlich der Neue hier. In einer Welt, von der ich vorher keinen blassen Schimmer, sogar Angst hatte.“ Solche Gedanken schießen mir durch den den Kopf, während der Franke schon wieder von Lewandoski und seinem strammen Fitnessprogramm erzählt, und jeder nickt und gibt zustimmende Laute von sich, als würden sie genau wissen wovon er da redet. Es entwickelt sich ein Gespräch und jeder weiß eine andere Anekdote aus seinem Trainingsprogramm. Diese erzählen sie mit einer Überzeugung, als wären sie live dabei gewesen. Danach dreht sich alles um die nächsten Programmpunkte am Nachmittag. Bei den meisten ein recht enger, voller Plan. Ich habe nach dem Essen erst mal 2 Stunden frei und mir vorgenommen diese zu nutzen um mein Zimmer etwas einzurichten und mich auszuruhen.
Jetzt aber steige ich wieder in das Gespräch ein. So geht nun darum, wann der lebenslustig wirkende Rheinländer sein Entlassungsgespräch hat. Es kommt dabei heraus, dass es diese Woche nicht stattfinden wird, weil er just heute morgen 2 Wochen Verlängerung bekommen hat. „Man kann hier ne Verlängerung bekommen?? Oh mein Gott, was ist das hier und warum scheint er keineswegs betrübt darüber zu sein?!“
Zu dem, wie sich Patienten so untereinander unterhalten, sehe ich starke Parallelen zu Begriffen, die man sonst nur im Zusammenhang mit einem Gefängnis benutzt. „Jaaa! So ein wenig erinnert es tatsächlich an ein Gefängnis“, denk ich mir.
Liegt vielleicht auch daran, dass ich wenige Monate zuvor Orange is the new black verschlungen habe und nun die Fantasie mit mir durchgeht. Im Speisesaal bilden sich keine Gruppen nach ethnischer Herkunft. Hier sitzen also nicht Latinos zusammen an einem Tisch, sondern es finden sich auf anderen Wegen Gruppen zusammen. Die Essgestörten haben am Anfang ihres Aufenthalts sowieso ihre reservierten Tische mit therapeutischer Essbegleitung. Sozusagen Highsecuritybereich. Abends schließen die Türen um halb 11, wer dann nicht wieder drin ist wird zuerst vom medizinischen Dienst gesucht und angerufen. Hat das kein Erfolg sucht die Polizei nach den Flüchtigen.
Strengstes Alkoholverbot und morgens bei der Visite wird überprüft, ob des Nachts nicht ein Patient die Reise ins Licht angetreten hat. Ok, es gibt auch eine Sauna, man kann in seiner Freizeit machen, was und wo man will, alle Türen sind von beiden Seiten zu öffnen und jeder versucht einem zu helfen. So gesehen ist es dann doch mehrere Stufen höher als ein Hoeneßurlaub aufs Staatskosten. Als ich schließlich gefragt werde, ob das mein erster Aufenthalt ist, sage ich augenzwinkernd „Ich bin Ersttäter“. Tiefergehend werde ich nicht gefragt. Man erzählt mir, dass man sich hier nicht gegenseitig fragt, wegen was man da ist. Entweder man erzählt es von selbst irgendwann, oder man sieht sich in ein paar Veranstaltungen sowieso und es kommt so zu einem Austausch. Was man aber letztendlich alles von sich Preis geben möchte bleibt jedem selbst überlassen. Klingt vernünftig.
Des Weiteren erhalte ich nun den wertvollsten Tipp des Tages: Man geht nie!!! in der ersten halben Stunde nach Öffnung des Speisesaals zu Mittag essen. Das ist die Zeit der Essgestörten. Die ohne spezielle Begleitung dürfen sich dann dort Salat holen, wird mir erzählt. Das wiederum führt zu besagtem Stau, den ich als Beteiligter ja schon miterleben durfte. Ist der Zeitplan so eng, dass man dennoch direkt essen muss, so nimmt man sich erst zuletzt noch Salat. Ist innerlich notiert! Und während der Tisch sich so langsam etwas leert, trete ich meinen zweiten Gang zum Buffet an und werde schauen, was ich noch so esse, bevor es in mein Zimmer geht.
Es grüßt herzlich