Heute habe ich mal ein etwas anderes Thema, welches mich seit einigen Monaten beschäftigt.
Auf Netflix kann man sich seit einigen Monaten eine neue Eigenproduktion anschauen, die einerseits gelobt, gehyped, aber auch kritisch gesehen wird. Es geht um die Serie 13 Reasons Why- oder im deutschen - Tote Mädchen lügen nicht.
Beide Titel, der englische sowie der deutsche, haben ihre Prägnanz, sogleich aber auch ihre Problematik. In dieser Serie ist die Protagonistin schon tot. Der Zuschauer erfährt direkt zu Beginn der Serie, dass sie Suizid beging und vorher ihre Gedanken noch auf Kassetten aufgenommen hat. Auf diesen Kassetten beleuchtet sie die letzten Jahre ihres Lebens und prangert ihre Mitmenschen an, Mitschuld an ihrem Selbstmord zu haben. Auf jeder Kassette geht es um eine andere Person und die Gründe vermeintlicher Mitschuld. Soweit das Konzept der Serie. Der englische Titel ist dabei eine ganz gute Beschreibung dessen, was die einzelnen Folgen der Serie liefern. Sie liefern die, aus Sicht der Protagonistin, 13 Gründe für ihren Selbstmord. Ich schreibe hier extra, dass dies die Gründe aus ihrer Sicht sind, da ich nicht der Meinung bin, dass es tatsächlich objektive, allgemein gültige Gründe für den Suizid eines Individuums geben kann. Der deutsche Titel ist dahingehend schwieriger. Er impliziert geradezu, dass diese aufgeführten Gründe die einzige Wahrheit ist, da tote Mädchen ja nicht lügen. Finde ich sehr schwierig. Das ganze Thema ist ein schwieriges, was aber nicht bedeuten soll, es nicht in der Popkultur verarbeiten zu dürfen. Es ist vielmehr ein guter Weg, dieses Thema einem breiterem Publikum zugänglich zu machen und es in einen gesellschaftlichen Diskurs zu bringen. Dies scheint diese Serie nun auch geschafft zu haben, wenn auch mit den unvermeidlichen Nebenwirkungen der Nachahmer. Man spricht hier schon von einem ähnlichen Effekt wie damals bei „Werther’s Leiden“ Der Werther Effekt. Ich halte das ganze für Übertreibung. Laut der deutschen Wikipedia gibt es ein Making-of der Serie, welches Tote Mädchen lügen nicht heißt. Hier sollen Psychologen zu Wort kommen und eventuell gefährdete Personen aufzufangen. Mir selbst ist dieses Making-of bisher noch nicht bekannt gewesen.
Zurück zum Inhalt. Das dort dargestellte Mädchen war mir im Grunde sofort sympathisch. Sie hat etwas warmherziges, ist intelligent, interessiert sich für Kunst - Musik im Besonderen- und hat keine auffälligen Marotten. Eigentlich ist sie nicht auf den Mund gefallen, hat aber dennoch kleine Probleme neue Kontakte zu knüpfen. Ihre Eltern sind selbstständig, haben eine eigene Apotheke und führen einen Existenzkampf gegen die großen Ketten wie Walgreens, den sie, so scheint es, mittel bis langfristig nur verlieren können. Die Eltern stellen die typische Mittelschicht in den USA dar, die schauen muss, dass sie nicht in eine Schicht abgleiten, in der sie den jetzigen Lebensstandard nicht mehr halten kann. Das bekommt natürlich auch die Tochter mit, dennoch scheint es ihr an nichts zu fehlen und ihre Eltern können ihr einiges ermöglichen. Unterschwellig bekommt der Zuschauer vermittelt, dass sie in schwierigen Situationen ihres jungen Lebens das Gefühl hat, dass niemand für sie und ihre Sorgen Zeit hat und ihre Eltern zu wenig auf sie eingehen. Sie entwickelt eine Eigenständigkeit, verdient sich in einem Kino Geld dazu und bespricht nur selten Geschehnisse mit ihren Eltern. Der Eindruck, dass Eltern und Tochter aneinander vorbeigelebt haben, verstärkt sich im Laufe der Serie, als vor allem die Mutter der Protagonistin vehement nach einem Grund für den Selbstmord ihrer Tochter sucht und auch nicht davor halt macht, die Schule verklagen zu wollen. Tut die Schule zu wenig gegen Mobbing? Gab es ein offenes Ohr für die Schülerin mit Problemen? Hätten die Lehrer nicht etwas merken müssen? Man kann das als typisch amerikanisch abtun, lächeln und sagen „Die verklagen einfach alles, wenn es möglich ist“, oder man betrachtet es mal menschlich. Die einzige Tochter dieses Paares hat sich noch in ihrer Jugend das Leben genommen. Die Trauer und Wut, die sich in diesem Fall ausbreiten muss, kann man sich gar nicht vorstellen und wer bin ich, das zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Ihre Eltern, federführend ihre Mutter, wollen Antworten auf die Fragen „Warum ist das passiert?“ und „Warum hat das kein Mensch bemerkt?“. Ihre Lehrer und Mitschüler hätten etwas bemerken können und dann eingreifen müssen. So verständlich dieser Denkansatz auch ist, so ist er objektiv natürlich viel zu kurz gedacht. Ihre Eltern hätten dann auch etwas bemerken können, ja sogar müssen. Dies soll kein Vorwurf an die Eltern sein, sondern vielmehr aufzeigen, dass es in diesen Fällen mit der „Schuld“ nicht so einfach und eindeutig ist. Nicht immer führen bestimmte Ereignisse zu genau vorhersehbaren Taten oder Folgen.
Die Killerspieldebatte
Nehmen wir zum Beispiel meine geliebte und immer wieder aufkochende Debatte zu den sogenannten Killerspielen. Geschieht ein Amoklauf mit einem Jugendlichen, ist der Ruf nach einem Verbot der Spiele, in denen es um Gewalt geht, immer schnell an der Hand. In der Tat haben viele dieser Täter etwas gemeinsam. Sie haben Videospiele gespielt, die in diese erfundene Kategorie der Killerspiele passt. Ein äußert beliebtes Hobby, bei vielen Millionen junger Menschen und es werden jedes Jahr mehr. Glaubte man damals noch, diese Spiele würden als eine Art Trainingsarena herhalten, weiß man heute, dass dies kompletter Unsinn ist. Aber in der Tat können solche Medien ein Puzzleteil in einer Verkettung von vielen Ereignissen sein, die letztendlich in eine Straftat und/oder Tragödie münden können. Menschen können sich durch Bücher, Filme und Spiele abschotten und sich beeinflussen lassen. Dies geschieht aber nicht allein durch diese Medien, sondern vielmehr sind sie ein Teil in einer großen, unglücklichen Verkettung. Ein jugendlicher der Jeanny von Falco hört, wird auch nicht automatisch zum Sexualstraftäter, der sein Opfer umbringen möchte. Hört das aber eine Person, die sowieso schon solche Gedanken und Triebe hat, kann sie sich dadurch bestätigt und getrieben fühlen. Eine Pauschalisierung a la Amazon „Kunden die dieses Produkt gekauft haben, kauften auch“, sind in diesen Fällen also nichts weiter als Populismus und undiffuntierter Kauderwelsch.
Die Kassetten
Wählt ein Mensch den Freitod, kommt es oft vor, dass ein sogenannter Abschiedsbrief gefunden wird. Dieser ist in der Gestaltung und dem Inhalt so verschieden, wie die Menschen, die ihn verfassen. Manchmal besteht er nur aus wenigen Zeilen, enthält vielleicht sogar ein Zitat. Oft wird aber in diesem Brief versucht seine Entscheidung zu erklären, vielleicht sogar zu rechtfertigen. Manche rechnen damit auch mit ihren Mitmenschen ab. Vordergründig sind sie für die Angehörigen, damit sie irgend eine Art von Antwort oder Erklärung haben und nicht völlig ratlos sind. Sie dienen aber natürlich auch dem Menschen, der Suizid begehen wird, um noch mal alles zu ordnen. In dieser Serie hat die Protagonistin keinen solchen Brief verfasst. Sie wird von ihren Eltern tot in der Badewanne aufgefunden, die keine Erklärung für diese Tat finden. Der fehlende Brief an die Eltern trägt so natürlich mit dazu bei, dass die Mutter so energisch versucht herauszufinden, was im Leben ihrer Tochter war und wer oder was der Auslöser für diese Tat gewesen sein könnte. Der Zuschauer und ein Teil ihrer Mitschüler hat da mehr Informationen. Ähnlich wie ich, hat auch die Protagonistin einen Hang zur Dramatik. Außerdem wäre ein einzelner Brief viel zu lang und komplex gewesen, ihre ganze Situation zusammenzufassen. Sie hat sich dazu entschieden Kassetten aufzunehmen, auf denen sie Gründe und Situationen beschreibt, die zu ihrem Selbstmord geführt haben. Damit aber nicht genug. Die 13 Kassetten gingen an einen Mitschüler, dem sie vertraut, der nun sicherstellen soll, dass die Kassetten alle Personen erreicht, die auf diesen vorkommen. Hat ein Mitschüler die Kassetten durchgehört, soll er sie an die nächste Person auf der Liste weitergeben. Als Zuschauer begleitet man nun ihren ehemals besten Freund, der gerade in den Besitz dieser Kassetten gekommen ist, und eine nach der anderen durchhört. Eine Folge -> eine Kassette, eine Person oder Situation. Dieses vorgehen unterscheidet sich doch drastisch vom klassischen Abschiedsbrief. Sie möchte mit bestimmten Personen abrechnen, Schuldgefühle wecken und auch den ein oder anderen Misstand aufdecken. Auch für ihren besten Freund gibt es eine Kassette.
Der Zuschauer wird Zeuge, wie die Protagonistin gemobbt wird, es wird mit ihren Gefühlen gespielt, sie versucht ihren Platz in der Welt zu finden und immer wieder gibt es empfindliche Rückschläge in ihrem Sozialleben. Auch eine Vergewaltigung wird beschrieben. Der Zuschauer kann nun den Eindruck gewinnen, dass dies eine Faktenliste ist und all diese Dinge wahr sind, die sie beschreibt - denn tote Mädchen lügen nicht.
Ihr zu Lebzeiten bester Freund hört also eine Kassette nach der anderen und hat so seine Schwierigkeiten. Er - und damit auch der Zuschauer - stolpert über verschiedene Ansichten bestimmter Ereignisse. Und auch der Eindruck, dass Kinder einfach grausam sein können, bestätigt sich. So leugnet ein Mitschüler gar nicht erst, die Gutgläubigkeit der Protagonistin und ihre Gefühle ausgenutzt zu haben um sie am nächsten Tag als Hure hinzustellen. Es kam nie zu einem sexuellen Kontakt, so wie es der Mitschüler hinstellt. Er leugnet diese Tat auch später nicht, und fühlt sich im Nachhinein schuldig. Diese Art des Mobbings ist ohne Frage scharf zu verurteilen und nicht schön zu reden. Es ist etwas, dass ihr das Leben an der Schule erschwert hat und viel Spott und Häme über sie brachte. Jeder Mensch ist anders und jeder Mensch hat eine andere Toleranzschwelle für Stress in seinem Kopf. Daher hätte es für einen, schon psychisch instabilen Menschen, als Grund für einen Suizid reichen können! Man muss sich das immer bewusst machen.
Jeder Mensch reagiert auf bestimmte Ereignisse anders, als andere Menschen und auch nicht immer gleich. Kann ein Mensch Wochenlang immer wieder über ein paar Sticheleien seiner Kollegen lachen, so ist an einem bestimmten Tag das Fass vielleicht schon so voll, dass es diese Sticheleien zum überlaufen bringen und jeder fragt sich, was los ist. Schließlich habe ihm das all die Wochen doch auch nichts ausgemacht. Auch ich muss mir da an die eigene Nase packen, lasse ich doch gerne mal den ein oder anderen sarkastischen Spruch und merke manchmal einfach nicht, dass es jetzt gerade absolut unpassend ist.
Die Schuldfrage
Die Pubertät und die Jahre kurz vor dem Erwachsenenalter sind voller neuer Eindrücke, Erlebnisse, Bekanntschaften und Problemen. Man entdeckt und tut Dinge zum ersten Mal in seinem Leben, neue Freundschaften entstehen, andere zerbrechen wieder. Täglich lernt man neue Dinge in der Schule und man will den Anschluss nicht verlieren. Hier zu bestehen, erfordert eine Menge Kraft. Kann man diese nicht alleine Aufbringen, gibt es noch die Familie die einen unterstützt und natürlich seine Freunde. Was aber geschieht, wenn diese Unterstützung wegfällt und der Jugendliche ins straucheln gerät, halt sucht, ihn aber nicht findet? Manche triften in Subkulturen ab, andere ziehen sich komplett zurück um die Angriffsfläche und Versagensschwelle so gering wie möglich zu halten. Die Protagonisten der Serie macht all das aber nicht. Sie erlebt Rückschläge, kämpft sich aber weiter tapfer durch ihr Leben. Das Problem ist nur, dass der Halt der wenigen Freunde, die sie hatte, bröckelt. Sie sieht sich am Ende alleine mit all ihren Problemen konfrontiert. Von ihren Mitschülern wurde sie sukzessive diskreditiert, sodass ihr am Ende auch keiner mehr glaubt, oder sie nur als das wunderliche Mädel hingestellt wird. Ihre beste Freundin und ihr bester Freund fanden beide einen neuen Feundeskreis und, sind wir mal ganz ehrlich, wer will seinen Eltern in dieser Lebensphase schon all seine Probleme erzählen?
Hätten die Mitschüler was merken müssen können? Sicherlich hätte der Ein oder Andere etwas bemerken können. In diesem, Alter passiert aber derartig viel und man hat mit sich selbst schon genug zu tun, sodass ein Erkennen von schwerwiegenden Problem nicht ganz so leicht fällt. Und die Lehrer? Die müssten doch etwas gemerkt haben. Immerhin sind sie den Großteil des Tages mit den Jugendlichen zusammen.
Das sehe ich anders. Die Sensibilität für psychische Erkrankungen ist natürlich in den letzten 10 bis 20 Jahren immer weiter gestiegen, jedoch muss man bedenken, dass psychische Erkrankungen sehr schwer zu erkennen sind und individuell unterschiedlich ausgeprägt sein können. Kommt ein Kind öfter mit großen blauen Flecken an Armen, Beinen und im Gesicht in die Schule, muss man sich als Lehrer schon die Frage stellen, ob da zuhause alles richtig läuft und man nicht lieber mal mit dem Kind, den Eltern und einer zuständigen Behörde für häusliche Gewalt redet. Auch wenn ein Kind sichtbare Spuren des sogenannten Ritzens an Armen und Beinen aufweist, könnte man ein Gespräch einleiten und sich an den Schulpsychologen wenden. Oft aber laufen psychische Erkrankungen vor den Mitmenschen unbemerkt ab. Das Verhalten kann sich ändern, die Stimmung sich verschlechtern oder schwanken. Das sind aber auch alles natürliche Dinge der Pubertät und müssen noch lange keine Alarmglocken klingeln lassen. Eine Familie und Freunde, die einem zuhören, einen nicht verurteilen, ist das wichtigste Präventivmittel und auch eine Stelle, an der eine Gefährdung festgestellt werden kann. Aufmerksame, richtig geschulte(ganz wichtig!)Lehrer sind natürlich auch ein Baustein, der helfen kann, solche Tragödien abzuwenden.
Fazit
Eine Serie wie 13 Reasons Why wäre vor 10 Jahren noch undenkbar gewesen. Kein Fernsehsender hätte so etwas produziert. HBO AMC und Netflix mit ihren zahlenden Kunden müssen keine Rücksicht auf Werbekunden und Einschaltquoten legen und haben uns damit eine vielfältige Serienlandschaft, abseits der nächsten und nächsten und nächsten Arzt- oder Crimeserie geboten. Hier können sich Autoren mit ungewöhnlichen Themen austoben und ihre Geschichten erzählen. Das ganze hochwertig produziert.
Ich finde 13 Reasons Why reiht sich in diese ungewöhnlichen, mutigen Erzählungen ein. Durch die Aufteilung der Folgen in jeweils eine Kassette, ist den Machern ein dramaturgischer Kniff gelungen, der wunderbar in eine Serienstruktur passt. Einige Folgen verlieren dadurch aber auch etwas an Fokus und wirken aufgeblasen, um die 40 Minuten ausfüllen zu können. Hier wäre weniger manchmal mehr gewesen, gerade im Hinblick auf das Ausstrahlungsmedium. Eine Folge muss nicht mehr immer die gleiche Länge haben um in den Sendeplan eines Senders zu passen. Die Hauptdarstellerin ist absolut fantastisch, sowie auch ihre trauernde, verzweifelte Mutter.
Aus dem Hauptdarsteller der Serie bin ich nicht so ganz schlau geworden. Er versprüht keine wirkliche Präsenz auf dem Bildschirm, was vielleicht aber auch gewollt sein kann, ist er doch gerade dabei die Kassetten zu hören und das Geschehene zu verarbeiten. Gott sei Dank stürzt er in der ersten Folge und schlägt sich den Kopf an. Durch die entstehende Wunde am Kopf weiß man nun was ein Rückblick ist und welche Szene in der Gegenwart spielt. Ohne diesen Kniff wäre die Serie zur Qual geworden, da recht häufig zwischen den Zeiten geschnitten wird. Der Mitschüler, der sicherstellen soll, dass die Kassetten die richtigen Menschen erreichen und ab und an mal auf misteriöse Weise auftaucht und dem Protagonisten zu helfen scheint, ist eine völlig überflüssige Figur. Die Geschichte hätte genauso gut ohne ihn funktioniert und bei weitem nicht so viel Stirnrunzeln bei mir ausgelöst. Insgesamt finde ich es eine sehenswerte Serie, die ein Thema behandelt, dass unbedingt einem größeren Publikum näher gebracht werden sollte. Hierbei sei aber auch gesagt, dass sie nichts für schwache Nerven ist. Einzig den Titel finde ich etwas schwierig gewählt. Auch, dass es eine zweite Staffel geben soll, erfüllt mich etwas mit Sorge. Es bleiben am Ende noch Fragen offen, die meiner Meinung nach aber nicht unbedingt geklärt werden müssen. Schon gar nicht in einer zweiten Staffel, welche dann wieder ihre 8-13 Episoden umfasst.
Es grüßt herzlich
Das Faultier