Faultierblog

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Das Faultier in der Notaufnahme

AUßEN - VORPLATZ - MITTAGS
Es ist kurz vor 16 Uhr und das Faultier hat gleich Feierabend. Ein paar Wägen mit Equipment sollen aber noch schnell zu einem anderen Veranstaltungsort geschoben werden. Einen dieser Wägen zieht das Faultier gerade hinter sich her, als dieser unerwartet stark ins Rollen gerät, seinen linken Fuß unter das Wagengestell zieht und ihn dabei ungesund verbiegt. Das Faultier lässt sich schnell fallen, damit der Winkel nicht noch größer wird und stoppt den Wagen dadurch mit seinem Oberschenkel.

Bei einem über 100 Kilo schweren Wagen ist das Ganze nicht so angenehm gewesen. Ich habe dann noch humpelnd versucht den Wagen zu seinem Zielort zu bringen, was ich aber recht schnell aufgab. Da dort niemand Zeit hatte mich ins Krankenhaus zu fahren, beschloss ich selbst in meine Wohnung zu fahren und dann mal zu schauen, wer mich eventuell von dort aus in ein Krankenhaus fahren könnte. "Der linke Fuß ist ja nur zum kuppeln, wird schon nicht so schlimm. Wie oft kuppelt man denn auch schon?" Jetzt weiß ich: mehr als man denkt! Vor allem bei Berufsverkehr mit stop and go. Eine gute Freundin aus Unizeiten, die nur ein paar Straßen von mir entfernt wohnt, übernahm den Job des Krankentransports. Die erste Schwierigkeit bestand darin, die Notaufnahme zu finden. Müsste ja eigentlich gut beschildert sein, könnte man denken. Da kann man dann aber so lange denken, bis der Fuß schwarz wird und von alleine abfällt. Wir folgten den Schildern "Uni-Kliniken" und parkten dann dort in einem Parkhaus. Das war nur leider so weit weg, dass ich auch eigentlich von meiner Wohnung aus hätte dort hinhumpeln können. Und wieder keine Beschilderung. Aber es gab ein großes Schild mit den Gebäuden und einem Sie sind hier-Punkt. Die Gebäude aber mit Nummern anstatt ihrer Funktionalität zu beschriften, kann nur einem Naturwissenschaftler im letzten Mastersemester eingefallen sein, als er auf der Suche nach effizienten Lösungsstrukturen ohne die lästigen Buchstaben war! Aaaber in knapp 90000 km Entfernung, im Silicon Valley, haben ein paar andere Naturwissenschaftler das Problem mit der Navigation schon recht gut gelöst. Also befragten wir Google Maps, wie man denn in einem Krankenhaus zur Notaufnahme kommt. Letztendlich humpelte ich die vorgegebene Route ab und wir kamen tatsächlich an. Zu unserer Rechten fanden wir einen Schalter vor, der dazu gedacht war, ambulante Notfälle aufzunehmen. Mein Fehler allerdings war, mir den Fuß nicht zwei Stunden früher zu zerstören, da der Schalter nur bis 16 Uhr besetzt war. Allerdings muss hier niemand sterben oder unnötig lange leiden, denn die Lösung des Problems lag näher, als man sich hätte erträumen können. Hat die Aufnahme für ambulante Notfälle schon den wohlverdienten Feierabend angetreten, so übernimmt ein netter Herr hinter dem Info-Schalter die Aufnahme. Der hat sogar einen sehr geschmackvollen, roten Schlips an, sodass man denken könnte, er wäre SPD Kanzlerkandidat. Nur hat dieser keinen neckischen Aufdruck "Universitätsklinikum" auf dem Schlips. Beide arbeiten aber in etwa in einem gleichen Umfeld. Bei beiden geht es drunter und drüber, Notfälle geben sich die Klinke in die Hand und qualifiziertes Personal ist schwer zu finden.

Disneyfans aufgepasst. Erinnert ihr euch noch an den wohl besten Animationsfilm der letzten Jahre? Ich rede von Zoomania. Auch wenn man ihn nicht gesehen hat, man kennt das Faultier, welches hinter einem Schalter der Führerscheinbehörde seinen Dienst verrichtet. Auch der nette Herr, der meinen Fall aufnahm tippte nur mit einem Finger. Der Finger der anderen Hand schwebte durchgehend über der Umschalttaste, falls er mal schnell einen Großbuchstaben brauchte.
Als er endlich alles eingetippt hatte, bekam ich ein DIN-A4 großes Blatt mit zahlreichen Stickern drauf, auf denen immer das gleiche Stand. Mein Name, Geburtsdatum, und, ach ne, das war es auch schon. Mit diesem Zettel sollte ich zur Aufnahme der Notfallambulanz humpeln. Der Herr dort fragte mich dann recht freundlich, ob ich nicht noch etwas anderes als diese Sticker hätte, was ich verneinte, und mich gleichzeitig fragte, ob ich vielleicht der erste Patient überhaupt dort war und alle noch ihre Routine finden und den Ablauf optimieren müssen. Ich füllte also ein Formular mit den Daten, die der Herr am Info-Schalter vorher mühsam mit einem Finger eingehämmert hatte und eigentlich schon vorliegen müssten, von Hand aus. Es würde mich aber auch nicht weiter wundern, wenn die beiden Systeme nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun haben und die Angaben am Info-Schalter im Netzwerk des Hausmeisters landen, der sie dann von Hand abschreibt und sie anschließend an eine Behörde in Bonn faxt, die schon seit über 20 Jahren nach Berlin umgezogen ist.
Irgendwann sah sich dann ein junger Arzt meinen Fuß an, drückte ein bisschen und schickte mich dann zum obligatorischen Röntgen. Er würde mich dort anmelden und wir müssten nur noch dorthin und warten. Die hätten eine Kamera dort und würden sehen, wenn wir dort sind. Da meine Begleitung sich zuvor geweigert hatte wieder nach Hause zu fahren (ich war der Meinung gewesen, dass ich selbst wieder nach Hause fahren könnte), organisierte sie jetzt einen Rollstuhl für mich und los ging die wilde Fahrt zum Röntgen. Wir kamen in einem Bereich an, in dem eine Kamera hing und gerade aus auch Röntgenräume zu sehen waren. Außer uns war niemand da und so dachten wir, dass es nicht lange dauern könnte. Als wir warteten, hörten wir hinter einer Trennwand einen scheinbar älteren Mann heftig husten und keuchen. Es klang weder gesund noch besonders lecker. Aber so ist das leider in einem Krankenhaus

Wir warteten einige Zeit, bis ein Mitarbeiter im Kittel vorbeikam und uns darauf aufmerksam machte, dass der Wartebereich zum Röntgen rechts hinter der Trennwand war. Also mussten wir noch mal umziehen und kamen dabei auch an dem Bett des hustenden und keuchenden Mannes vorbei, der nur mit einer Unterhose bekleidet und aufgedeckt in seinem mobilen Krankenbett mit Sauerstoff lag. Meinen Rollstuhl parkten wir neben einem anderen Krankenbett, in dem eine ältere Frau, ebenfalls mit Sauerstoffschlauch, lag. Wir mussten sobald feststellen, dass natürlich keine Anmeldung erfolgt war und die Frau, die für das Röntgen zuständig war und leicht überfordert wirkte, alle wartenden Patienten nach Namen fragte und nach ihrem eigenen System anmeldete. Als wir also warteten, kamen wir mit der älteren Frau neben mir ins Gespräch und erfuhren, dass sie dort schon knapp eineinhalb Stunden stand und darauf wartete, dass sie jemand auf ihre Station brachte, wo ihr, nun schon lange kaltes, Abendessen auf sie wartete. Das Personal in Krankenhäusern ist knapp. Das wusste ich, bekommt man immer wieder mit. Aber dass Patienten, die durch einen Schlauch atmen müssen und vielleicht auch noch anderweitig überwacht werden müssten, stundenlang ohne Aufsicht in Fluren warten bis sie abgeholt werden, das war mir neu. Als die ältere Dame die Frau vom Röntgen nachfragte, ob denn mal jemand kommen würde, bekam sie als Antwort nur zu hören, dass sie schon angerufen hätte und ihre Zuständigkeit ab da dann aufhöre. Nach einiger Zeit kam ein Mann mittleren Alters und eine junge Frau, beide in blauer Arbeitskleidung, den Gang entlang. Es stellte sich heraus, dass sie dafür zuständig waren, die Patienten auf ihre Stationen zu fahren.

Dieser Mann bemerkte nun den keuchenden, alten Mann hinter der Trennwand und begann sogleich auf ihn einzureden. Er solle sich nicht wundern, dass er keine Luft bekäme, wenn er sich den Schlauch rauszieht. Den solle er sich mal schön wieder reinmachen. Und kalt sei ihm sicher auch, so ohne Decke. "Selbst Schuld, wenn sie keine Luft bekommen, hier ist ihr Schlauch". Mit diesen Worten steckte er dem Patienten den Schlauch in die Nase und deckte ihn zu. Dieser fing nun noch mehr an zu keuchen, krampfte, lief rot an und sabberte. Die beiden vom Hol und Bring Service, wie ich sie nannte, standen etwas ratlos daneben und bemerkten nur, dass er wohl einen Anfall hat. "Erst am Wochenende ist einer auf dem Flur gestorben", bemerkte der ältere von beiden und ging dann Richtung Röntgenabteilung, wo er zunächst den Zugangscode zweimal falsch eingab und endlich "Hilfe" holte. Die bestand aus unserer jungen Frau, die uns von Hand zum Röntgen angemeldet hatte. Aber anstatt dem Mann im Bett zu helfen, diskutierten beide erst einmal, wer denn jetzt Schuld an der Situation hat. Die jüngere Frau des Hol und Bring-Duos erreichte schließlich eine Ärztin in einem der Nebenräume, die dann veranlasste, den Mann in einen Raum bringen zu lassen, in dem man seine Werte an Monitoren überwachen könne. Ab diesem Zeitpunkt wussten wir nicht mehr, wie es um den Mann steht. Es wurde noch zweimal die Tür geöffnet. Das erste mal für den Pizzaboten und das zweite mal für den Notarzt. Nach einiger Zeit kamen die beiden vom Hol und Bring Service alleine wieder raus. Der Mann schaute sich um und sagte dann "Tja, so schnell kann es gehen". Da platzte mir innerlich der Kragen und ich sagte etwas lauter zu ihm, dass von schnell in diesem Falle ja wohl keine Rede sein könne. Verstand er nicht und die beiden zogen schlurfend ihrer Wege.

Das Röntgen an sich war dann recht unspektakulär. Danach wieder warten bis der Arzt Zeit hatte, um sich die Bilder mit mir anzuschauen. Dabei kamen wohl drei Bereiche am Fuß in Betracht, wo etwas hätte am Knochen von den Bändern ausgerissen sein können. Zwei davon konnte man gut erkennen, der dritte Bereich war durch das Röntgenbild leider nur in einem kleinen Teil abgebildet, aber in selbigem konnte man nichts feststellen. Ich halte also fest: Ganz viel Fuß auf dem Bild mit ganz vielen Bereichen, die nicht relevant waren, zwei relevanten Bereichen und dann noch ein relevanter Bereich, der aber leider nur zum Teil abgebildet wurde. Recht gut. Nun, ich sollte einen Verband bekommen, Krücken und Thrombosespritzen und mich nach sieben Tagen Fuß hochlegen bei einem niedergelassenen Arzt melden. Nun kam eine Frau in das Untersuchungszimmer, die mir den Verband anlegen sollte. Diese fragte zunächst, wo sie ihn denn anlegen soll. Daraufhin entgegnete ich überrascht, dass ich das nicht jeden Tag mache und ich nicht weiß, wo der Verband hin muss. Sie entdeckte dann eine Stelle, die dick war und meinte "Ah, wahrscheinlich dort, wo es dick ist". "Gott sei Dank sind wir hier alle Profis", entfuhr es mir und sie fing an den Verband anzulegen. Während sie das tat, fragte ich, wo ich denn nun die Krücken herbekommen sollte. "Na, wenn sie Krücken haben, dann müssten sie auch Thrombosespritzen bekommen", bekam ich zu hören. Da schaltete sich nun auch meine Begleitung ein und meinte, dass das so vom Arzt auch angedacht war. "Davon stand nichts im Brief, ich schaue noch mal nach. Ahja doch. Da steht es. Dann muss ich ihnen noch zeigen, wie sie die Spritzen setzen müssen."

Sie holte also die Spritzen und begann zu erklären: "Als Erstes desinfizieren wir die Stelle. Das müssen Sie zuhause aber nicht machen" "Ähhhm, und jetzt machen wir das, weil es hier besonders dreckig ist, oder warum muss ich das zuhause dann nicht mehr machen?", entfuhr es mir etwas entsetzt. Ich habe sowieso schon ein sehr ungutes Gefühl bei Spritzen. "Ne, das machen wir hier immer so", war die Antwort. Machte es nicht besser, aber ich wollte auch einfach endlich nach Hause. Die Spritze saß, ich bekam meine Krücken gebracht, auf meine Größe angepasst und dann konnte ich auch schon Richtung Parkhaus am anderen Ende des Geländes humpeln.
Viel hatte ich schon gehört, von befreundeten Medizinstudenten und Freunden beim Rettungsdienst, über die Zustände in der Uniklinik und insbesondere der Notfallambulanz. Ich erinnere mich sogar an einen Ratschlag von einem Freund, der mir (scherzhaft) riet, bei einem schweren Unfall meinerseits es selbst zu Ende zu bringen, da es sonst spätestens die Kollegen in der Uniklinik machen würden. Das ist wahrscheinlich etwas überspitzt dargestellt, aber ich konnte auch nur die Oberfläche sehen und mir war mit einem Voltarenverband und Krücken geholfen. Mein Vorteil war auch, mich selbst artikulieren zu können und nicht in einem Bett auf dem Flur vergessen worden zu sein. Trotzdem habe ich kein großes Verlangen so schnell wieder zurück in die 505 (so nennen wir Profis die Notfallambulanz. Wir erinnern uns: Die Gebäude haben Nummern anstatt sofort ersichtlicher Bezeichnungen wie "Notaufnahme") zurückzukehren.

Es grüßt herzlich

Das Faultier