Innen-Zimmer-Morgen
Samstag morgen, 9 Uhr. Das erste Wochenende in der Klinik steht an und um 10 Uhr ist der Samstagstermin. Was es genau ist, konnte man mir nicht sagen. Werde es in einer Stunde herausfinden. Zuerst aufstehen und duschen, danach schnell zur Medizinisches Zentrale(MZ), mich als lebend melden und meine Medikamente in Empfang nehmen. Für Frühstück ist es zu spät und recht Lust habe ich auch nicht darauf. Ich habe noch nie richtig gefrühstückt - Zeitverschwendung.
Auf dem Plan steht einer der Räume im Gang der Sporttherapeuten. „Könnte also was mit Sport zu tun haben“, denke ich mir und ziehe vorsichtshalber KEINE Sportklamotten an. Wenn man die bräuchte, hätte man ja gerne Bescheid geben können.
innen-therapieraum-morgen
Die Tabletten sind erfolgreich abgeholt und eingenommen. Im Therapieraum sind schon Patienten voll in Bewegung. Ich sehe Menschen, die sich einen kleinen Ball hin und her werfen und dabei in einer Formation stehen, die entfernt an einen Kreis erinnert. Grandios. Sowas liebe ich ja total… Habe solche Spielchen schon immer gehasst, stelle mich aber trotzdem dazu und bekomme prompt einen Ball von der Frau zugeworfen, die mir etwas seitlich gegenüber steht. Hier steh ich nun also und werfe einen Ball im Kreis. Dafür brauche ich tatsächlich keine Sportkleidung!
Eine kleine, ältere Frau kommt nun auf die geniale Idee, den Ball gegen ein Schaumstoffrechteck mit einer Feder dran auszutauschen und diesen im Kreis zu werfen. Jetzt erst fällt mir auf, dass diese Frau ein Schild an ihrem Körper trägt, auf dem das Kliniklogo prangt. Großartig, dass also ist die heutige Therapeutin. Diese ältere Frau spricht sehr sehr leise und begleitet jeden 1,3ten Satz mit einem leicht unsicheren Lachen.
Nachdem das gegenseitige Zuwerfen dieses „Schaumstoffkörpers mit Feder“ eine immer schneller und aggressiver (das Teil wird jetzt mit ordentlich Schwung geworfen) werdende Dynamik entwickelt hat, wird die lustige Wurfrunde beendet und die Therapeutin stellt sich vor. Ihren Namen habe ich schon direkt nach der ersten Sekunde wieder vergessen. Ich glaube ich habe mich nicht mal wirklich angestrengt ihn zu behalten.
Sie heißt uns herzlich Willkommen „an diesem sonnigen Samstag“, fragt wer denn alles neu in der Gruppe ist und lacht dabei. Sie bedauert, dass wir ausgerechnet am Donnerstag ankamen und zu Beginn gleich ein Wochenende haben, an dem keine Therapien stattfinden und man sich selbst beschäftigen muss. „Wissen sie denn, was man hier am Wochenende so machen kann? Haben sie da vielleicht Fragen?“ Betrenes Schweigen, jeder schaut fragend in die Runde, aber niemand macht den Mund auf und fragt. Es ist wie immer und überall.
„Ich habe eine Frage“, beginne ich. „Und zwar würde ich als Neuankömmling tatsächlich gerne wissen, was man denn hier so machen kann am Wochenende“. Die Therapeutin lächelt mich an und sagt dann in die Runde „Ja, danke für die Frage, da scheint es ja doch Bedarf zu geben. Ich möchte diese Frage gerne an die Patienten weitergeben, die schon etwas länger hier sind. Was kann man am Wochenende hier so machen?“ Wie gerne möchte ich jetzt mit flacher Hand richtig feste gegen die Stirn klatschen und stöhnen. Mach ich aber nicht. Ich schaue immer noch die Therapeutin an und lächle weiter, während ihr Kopf lächelnd den Blickkontakt mit den anderen Patienten in der Runde sucht, um ihnen eine Antwort zu entlocken. Ein Mann rechts von mir fängt nun an zu reden und gibt den Tipp, dass man bei diesem schönen Wetter in der Stadt Fahrräder leihen kann und dann ganz tolle Touren um den See in der Nähe machen kann. Dorthin könne man auch problemlos spazieren und sich dann in das Strandkaffee setzen. Jetzt wird auch die Frau direkt neben mir gesprächig und erzählt, dass sie seit Anfang der Woche da ist und heute Mittag mit ein paar Patienten eine geführte Wanderung mitmachen möchte. Diese sei kostenlos, sie träfen sich im Foyer und ich wäre herzlich eingeladen mitzukommen.
Wunderbar. Das hört sich gut an und ich sage zu. Die Therapeutin ist sichtlich zufrieden und beginnt nun damit zu erklären, was sie heute mit uns vorhat.
Wir machen ein paar Grundübungen im Qigong. Habe ich vorher noch nie gemacht, bin gegenüber solchen Experimenten aber immer aufgeschlossen. Der körperliche Teil ist leicht und so sollen auch alle Bewegungen leicht ineinander fließen und langsam verschmelzen. Der Teil aber, der die Vorstellungskraft auf den Plan ruft, lässt bei manchen Menschen in der Runde doch ein ungläubig, amüsiertes Lächeln auf ihrem Gesicht zurück. Was’n Quatsch. Welches Leben regnet da runter, wird zu einem Fluss, wir sammeln es mit den Händen auf, führen es zum Herz und werden zu einem Baum? Zum Baum des Lebens. Ja, diese Vorstellung ist abstrakt und man hätte die Bewegungen auch ohne diese Geschichte ausführen können. Hätte man sie dann aber mit der gleichen Präsenz und Konzentration ausgeführt? Ich glaube nicht! Ohne diese gedankliche Stütze, dem Märchen, wären diese Bewegungen einfach nur ziemlich lahme Gymnastikübungen, welche nach zwei Wiederholungen ihren Reiz und damit auch ihren Sinn verfehlen würden.
Wir schöpfen also fleißig mit unseren Händen Leben aus einem Fluss, führen es zum Herzen und was wir sonst noch alles damit machen und nach 40 Minuten ist der Kurs vorbei und das freie Wochenende beginnt.
innen-speisesaal-mittag
Das beginnt direkt mit Essen. Es ist Mittagszeit und so begebe ich mich direkt in den Speisesaal. Hier war die letzten zwei Tage mittags die Hölle los. Doch heute ist es hier wie ausgestorben. Nur ein paar Tische sind besetzt und der Lautstärkepegel ist minimal. Der Blick aus der großen Fensterfront lässt vermuten, was hier los ist. Die Sonne scheint unermüdlich und der Großteil der Patienten wird das Wochenende nutzen, um mit ihren Familien etwas Zeit außerhalb der Klinik zu verbringen. Das habe ich bis jetzt noch nicht verstanden. Man kommt mit einem Berg von Problemen her, an denen man arbeiten möchte und dann holt man sich neue potenzielle Problemherde her, indem man Zeit mit der Familie verbringt. Die Meisten sind wegen ihrer Familie hier gelandet!
Während ich so dasitze, sehe ich wieder eine Gruppe sehr dünner Mädchen und junger Frauen in Begleitung einer Therapeutin eintrudeln. „Gut, dass ich meinen Salat schon habe“, denke ich mir und schaue zu, wie traurig dreinblickende Mädels 10 Minuten brauchen, um ihren Salatteller zu füllen. Das essen desselben wird ungleich länger dauern. Der nächste Schritt ist aber wieder die vorportionierten Teller, unter Aufsicht der begleitenden Therapeutin, zu leeren. Dieses Bild ist so traurig, dass ich wieder wegschaue und die sonnige Landschaft draußen betrachte.
Die Frau, welche mich eingeladen hat zur geführten Wanderung mitzukommen, setzt sich mit ein paar weiteren Patienten an meinen Tisch und wir kommen etwas ins plaudern.
Da ist die Frau, die ich auch schon aus der „Visite“ kenne. Klein, sehr zierlich und immer einen recht bedrückten und unsicheren Gesichtsausdruck. Sie redet sehr leise, auch nicht wirklich viel und konzentriert sich die meiste Zeit eher auf ihr Essen. Dann haben wir einen Lehrer, welcher wegen einer Gehörminderung und daraus resultierendem Tinnitus in Behandlung ist. Die Frau, welche mich eingeladen hat, ist ein recht hohes Tier in einer größeren Firma und hat ein paar familiäre Repressalien, welche sie beschäftigen. Wir verabreden uns in einer Stunde im Foyer zu sein und dann gemeinsam in die Stadt zu gehen, um dort die Wanderung zu starten.
Es grüßt herzlich
Das Faultier